Der innere Fluss: Wie wir unsere Ideen zum Fließen bringen
Kreative Ideen gewinnen in einer sich verändernden Welt an Bedeutung. Nur wer in der Lage ist, neue Wege einzuschlagen, kann die immer neuen Herausforderungen bewältigen. Die Frage ist, wie wir auf kreative Ideen kommen.
Ich persönlich finde die Metapher hilfreich, dass wir unseren inneren Fluss zum Fließen bringen müssen. Dies gelingt uns, indem wir für einen regen Zufluss sorgen, den Fluss von Widerständen befreien und einen Raum schaffen, in den unsere Kreativität fließen kann.
Lesezeit: 5 Min.
Autor: Tobias Rebscher
Foto: ByCh3lo 🔗
Was ist schon kreativ?
Es gibt keine einheitliche Definition von Kreativität. Dennoch besteht weitgehend Konsens darüber, dass wir durch die Kreativität etwas Wertvolles schaffen, das es bisher noch nicht gibt. Das Wertvolle kann materieller Natur sein, es kann aber auch einfach sein, dass uns der kreative Ausdruck Spaß macht und guttut - auch das ist mit "wertvoll" gemeint (Kaufman & Beghetto, 2014; Runco & Jaeger, 2012; Simonton, 2012).
Beispiel: Ich räume unsere Wohnung um und folge einem Impuls, das Bett in den Flur zu stellen. Als meine Partnerin nach Hause kommt, kann sie die Tür kaum öffnen. "Und? Kreativ, oder?", frage ich. "Definitiv neu, aber wohl kaum sinnvoll!", ruft sie leicht angesäuert und wirft sich gegen die Tür. "Und wenn ich alles wieder zurück räume, wie es war?", frage ich. "Das wäre dann ja wohl kaum neu. Räum doch einfach so um, dass es Sinn macht. Das wäre mal kreativ!”
Welche Ideen wir für uns behalten
Wenn ich meine Partnerin in dieser Situation richtig verstehe, hätte sie es wohl bevorzugt, wenn ich meine Idee, das Bett in den Flur zu stellen, nicht umgesetzt hätte. In anderen Worten: Sie hätte sich ein stärkeres Eingreifen meines Executive-Control Networks (ECN) im Gehirn gewünscht, das für das Zurückhalten von Ideen zuständig ist.
Wie kommt es, dass wir manche Ideen zurückhalten und andere nicht? Das neurowissenschaftliche "Twofold-Modell" von Kleinmitz & Co (2019) gibt Aufschluss. Demnach prüfen wir Ideen in zwei Schritten:
- Zuerst schätzen wir den Wert von Ideen unbewusst ein - dabei spielen Emotionen und Motivation eine wichtige Rolle.
- Anschließend prüfen wir die Ideen bewusst auf ihre Neuheit.
Wenn wir Ideen nicht als neu und wertvoll empfinden, halten wir sie sicherheitshalber zurück. Besonders im Beruf steht viel auf dem Spiel - nicht zuletzt Selbstwert und Arbeitsplatz. Das Problem ist, dass wir den Wert von Ideen anfangs nur schlecht einschätzen können (Rietzschel et al., 2010). Ideen sind wie Diamanten: Erst wenn sie geschliffen werden, können wir erkennen, wie wertvoll sie sind (Catmull, 2014).
Wir wir unsere Ideen zum Fließen bringen
Bei ganz kleinen Kindern strömt der innere Fluss ungehemmt in die Welt. Sie verleihen ihren Gefühlen Ausdruck. Erst in der Erziehung lernen sie, dass sie sich in Gesellschaft zusammenreißen müssen - sonst hat das Konsequenzen. Im Kontext von Kreativität ist das wichtig, da wir mit der Hemmung von Teilen unserer Natur gleichzeitig Teile unseres kreativen Ausdrucks hemmen. Wir stauen unseren inneren Fluss zu einem Stausee auf.
Mithilfe der Metapher des angestauten inneren Flusses können wir drei Ansatzpunkte identifizieren, an denen wir den Fluss unserer Ideen stärken können:
- Vor dem Staudamm, indem wir dafür sorgen, dass der Fluss genug Wasser hat
- Nach dem Staudamm, indem wir einen Raum schaffen, in den das Wasser fließen kann
- Am Staudamm, indem wir erreichen, dass möglichst wenig Wasser zurückgehalten wird
Den ersten Ansatzpunkt können wir stärken, indem wir für Inspiration sorgen, zum Beispiel indem wir offen bleiben für neue Erfahrungen, uns vielfältige Konzepte aneignen und uns mit unterschiedlichen Menschen umgeben. Der zweite Punkt kann uns gelingen, indem wir zeitlich und örtlich einen geschützten Platz für unsere Kreativität einrichten und die unbegrenzten Möglichkeiten der Kreativität zum Beispiel mithilfe von Deadlines beschränken (Heath & Heath, 2013). Auch das konvergente Denken, mit dem wir uns auf eine bestimmte Idee fokussieren (Cropley, 2010), findet sich in diesem Punkt der Metapher wieder - etwa als begradigtes Flussbett. Zudem können die Tools und Techniken der Produktivität unsere Kreativität an dieser Stelle fördern (Artikel: Mein zweites Gehirn).
Dagegen stellt der dritte Punkt, die Widerstände unseres Staudamms abzubauen, eine unangenehme Herausforderung dar. Steven Pressfield gibt uns in seinem Buch The War of Art (2002) den wichtigen Hinweis, dass wir, um unsere Widerstände zu überwinden, einen Umgang mit unseren Ängsten finden müssen. Auch wissenschaftlich gibt es Hinweise darauf, dass Ängste die Kreativität hemmen (Adams, 2019; Baas et al., 2008). Mithilfe der Metapher des inneren Flusses wird das verständlich: Wenn Ängste die Substanz des Staudamms sind, hemmen sie unseren natürlichen Ausdruck.
Beispiel: Anstatt das Risiko einzugehen, dass wir nach unserem erfolgreichen Debütroman an unserem eigenen Buch scheitern, schreiben wir lieber gar nichts. Die Angst, dem ersten Werk nicht gerecht zu werden, lässt uns dem Impuls "widerstehen", ein zweites Buch zu veröffentlichen. Ähnlich mag es der Pulitzerpreis-Trägerin Harper Lee gegangen sein, die nach ihrem Meisterwerk "Wer die Nachtigall stört" nie wieder ein Buch veröffentlicht hat.
Wie wir den Staudamm öffnen
Wie aber bauen wir unsere Ängste ab? Wie räumen wir Hemmungen und Widerstände aus dem Weg? Wie können wir aufhören, uns für das, was wir tun, zu schämen - denn auch dahinter verbergen sich Ängste (Brown, 2007)?
Die Metapher des inneren Flusses gibt uns zwei wichtige Hinweise:
- Ängste müssen keine Macht über uns besitzen. Wir fühlen uns zwar blockiert, aber in Wahrheit sind wir es, die blockieren (Godin, 2020; Pressfield, 2002).
- Unsere Ängste und Widerstände wollen uns nichts Böses. Mit ihrer Hilfe versuchen wir, uns vor negativen Konsequenzen zu schützen (Brown, 2007; Hollis, 2005).
Es wird verständlich, weshalb es nicht sinnvoll ist, gegen Widerstände anzukämpfen. Sie sind nicht unsere Feinde, sondern unsere Verbündeten. Indem wir gegen sie ankämpfen, verstärken wir nur unsere Ängste, schließlich schützen uns unsere Widerstände dafür, von unseren Ängsten überwältigt zu werden (Block, 2011; Gilbert, 2016; Holiday, 2021).
Stattdessen sollten wir unsere Ängsten als unsere Verbündeten wertschätzen und ihnen achtsam erklären, weshalb wir sie nicht (mehr) brauchen. Außerdem hilft es, wenn wir uns vergegenwärtigen, auf welche Chancen wir verzichten, wenn wir uns von unseren Ängsten einschüchtern lassen - denn diese "Opportunitätskosten" werden oft übersehen. Der Unternehmer Tim Ferris (2011) hat hierfür seine "Fear Setting Exercise" entwickelt.
Unsere Ängste wollen uns schützen. Dafür können wir ihnen dankbar sein. Wenn wir sie wahrnehmen, akzeptieren und ihnen behutsam zeigen, dass sie unbegründet sind, werden sie von uns ablassen - nicht zuletzt, da wir uns bei diesem Umgang mit unseren Ängsten sicher fühlen (Brach, 2020). Ähnliches empfiehlt auch die kognitive Verhaltenstherapie oder die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (Riggenbach, 2021; Orsillo & Roemer, 2012).
Mit dem Abbau der Ängste können unsere Ideen wieder freier fließen, und mit der höheren Anzahl an Ideen steigt die Wahrscheinlichkeit, dass auch wirklich kreative Ideen dabei sind (Adams, 2019; Osborn, 1963). Es macht also Sinn, sich erst einmal auf den freien Fluss der Ideen zu konzentrieren. Die Bewertung von Ideen erfolgt dann erst im zweiten Schritt.
Dennoch wäre es ein Irrtum zu glauben, dass wir unsere Ängste vollständig abbauen müssen, bevor wir überhaupt kreativ sein können. Ängste sind ein integraler Bestandteil kreativer Prozesse. Wenn wir irgendwann keine Angst mehr haben, ist dies ein Zeichen dafür, dass wir in Wirklichkeit nicht mehr kreativ sind, sondern bekannte Wege gehen (Pressfield, 2002). Davon abgesehen können Ängste auch unseren kreativen Ausdruck inspirieren, wie an Kunstschaffenden wie Käthe Kollwitz, Frida Kahlo oder Edvard Munch deutlich wird.
Und was mache ich nun mit meinem Bett?
Zurück zu meiner Umräumaktion, bei der ich zu Beginn des Artikels meiner Intuition gefolgt bin und das Bett in den Flur gestellt habe. Bevor ich das nächste Mal direkt loslege, könnte ich auf jeden Fall erst einmal Anforderungen ermitteln, Skizzen zeichnen, die Skizzen zerschneiden und neu zusammensetzen…
Das könnte ich, würde es aber nicht. Wenn uns die Umstände erlauben, angstfrei und ohne Risiko zu experimentieren, ist es von besonderem Wert, dies auch zu tun. Dazu gehört es auch, absurd wirkenden Ideen eine Chance zu geben. Nur so können wir uns auf wirklich neue wertvolle Wege einlassen; nur so können wir uns selbst überraschen und für das öffnen, was noch möglich ist.
Und tatsächlich: Bereits in unserer ersten Nacht im Flur können wir aus dieser neuen Perspektive erkennen, wie durch einen kleinen Spalt des Küchenfensters - in etwa 400 Lichtjahre Entfernung - ein funkelnder Stern geboren wird.
Erste Schritte
Damit unser innerer Fluss frei fließen kann, müssen wir für einen regen Zufluss sorgen. Dies erreichen wir zum Beispiel, indem wir neugierig bleiben, offen für neue Erfahrungen sind, uns immer wieder neu herausfordern und uns mit inspirierenden Menschen umgeben (Amabile, 2012; Schutte & Malouf, 2019).
Wenn wir unsere Widerstände überwinden wollen, ist es wichtig, dass wir eine Umgebung schaffen, in der wir uns psychologisch sicher fühlen (Edmondson, 1999; Newman et al., 2017). Erst wenn wir davon überzeugt sind, dass unsere Ideen keine negativen Folgen haben, können wir befreit Risiken eingehen. Für Kollaborationen kann das TERA-Modell Orientierung geben (Bungay Stanier, 2016).
Wenn wir kreativ sein wollen, müssen wir sicherstellen, dass wir einen Raum haben, in dem unsere Kreativität frei fließen kann. Viele Kreative nutzen dafür einen Zeitplan und machen sich, unabhängig davon, ob sie inspiriert sind oder nicht, an die Arbeit (Godin, 2020; Kleon, 2019; Pressfield, 2022). In diesem Artikel beschreibe ich, wie uns die Produktivität dabei helfen kann.
Drei Tools
Morgenseiten von Julia Cameron (2002): Es gilt, jeden Morgen drei DIN A4 Seiten zu schreiben, bei denen wir den Stift ohne Pause in Bewegung halten. Unsere Gedanken klären sich, und wir leisten uns in unseren Ängsten Gesellschaft. Wichtig: Die Seiten niemandem zeigen und das Geschriebene nicht bewerten. Hilfreich: Sie direkt wieder vernichten.
“Fear Setting Exercise” von Tim Ferris (2011): Hervorragend, um unsere Ängste zu verstehen und abzubauen. Es beruht auf der "Premeditatio Malorum" von Seneca und besteht aus drei ausführlichen Schritten: Erstens, etwas zu definieren, vor dem wir Angst haben, zweitens, die Vorteile der Handlung zu definieren, und drittens, sich die Kosten der Untätigkeit deutlich zu machen.
Entscheidung für Wachstum im Sinne von James Hollis (2005): Wenn wir Entscheidungen treffen, sollten wir uns nicht fragen, was uns glücklich macht. Die Suche nach Glück kann uns in die Komfortzone führen und Ängste noch verstärken. Stattdessen sollten wir uns fragen, welcher Weg uns wachsen lässt. Der Weg des Wachstums mag schwerer sein, aber er führt zu einem erfüllenden Leben.
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